Science Fiction, Horror, Drama, UFO, Alien, Monster, Parasit, Labor, Experiment, Verschwörung, Wahrheit, Fiktion, Blödsinn, Forensik, Trauma, Zeitverlust, Montag, Mulder, Scully, FBI, Schulterpolster – klassisch geheimnisvoll, in Moll. X-Files reloaded. We still want to believe. Oder?
The truth is out there – das wissen wir seit spätestens 1993. In diesem glorreichen Jahr startete mit Akte X – Die unheimlichen Fälle des FBI (The X-Files) eine Serie, die uns im Regen der vier Elemente, Krimi, Horror, Mystery und Science Fiction, den Wochenanfang bis 2002 erleichterte. Neun Staffeln mit 202 Episoden und zwei Kinofilme später hatten wir vieles aus den spooky Fällen des FBI gelernt. Den monster of the week-Folgen verdanken wir unauslöschliche Erinnerungen an bizarre Kreaturen, die alptraumhaft durch Kleinstädte, durch Wälder, Gewässer und Arterien geistern – Bilder vom Paranormalen, das FBI-Agent Fox Mulder beschmachtet, während Partnerin Dana Scully als fleischgewordene Skepsis kühl da steht. Der Hauptplot hatte es in sich. Zeitverlust durch UFO-Präsenz? Kaum zu glauben. Entführte Menschen als Versuchsobjekte umtriebiger Außerirdischer? Schon eher. Schwangere Frauen ohne Samenspender? Nahezu biblisch. Schwarzer Krebs, der Menschen zu Aliens werden lässt? Irgendwie vielleicht. Mächtige Politiker als Befürworter einer geplanten Invasion außerirdischer Rebellen? Area 51.
Verwirrt und apathisch aßen wir unser Montagspopcorn vor der Flimmerkiste. Immer wildere und undurchsichtigere Verschwörungstheorien wurden dem Durchschnitts-Xler auf der Couch zugemutet; da half auch Terminator T-1000 nicht, der ab Staffel 8 den nur noch sporadisch auftretenden Mulder in Gestalt von Agent John Jay Doggett ersetzte. 2015 dann die verheißungsvolle Botschaft: die X-Akten werden geöffnet. In einer 10. Staffel mit sechs Episoden soll den übriggebliebenen Fragezeichen ordentlich eingeheizt werden. Der erste Ausstrahlungstermin im deutschen Fernsehen am 03. Februar 2016 geht damit gewissermaßen in die Geschichte ein. Und schon wieder ist nichts, wie es scheint.
Durch Alien-DNA zur Weltherrschaft
Der Kampf (My Struggle I) beginnt bei uns selbst. David Duchovny wirkt, als wäre er ein Mal zu oft in Californication gewesen, und anstelle der sanften, leicht ironischen Stimme von Synchronsprecher Benjamin Völz ist das ungleich härtere, coolere John Wayne-Röhren von Sven Gerhardt zu hören – der Anti-Mulder. Also querfeldein durch den Shitstorm auf zu englischen Ufern. Keine Zeit für komische Gefühle, der nächste Schlag folgt, die Montagsapathie kehrt mit einer neuen Weltverschwörung zurück.
Tad O’Malley, bekannter Webcaster und schmieriger Typ, berichtet Scully und Mulder von einer globalen Verschwörung auf Regierungsebene, die allein durch eine gezielte Streuung falscher Verschwörungstheorien bislang geheim gehalten werden konnte. Alles, was die X-Akten der ersten neun Staffeln über Alieninvasion, Alienaufstände und Alien-Politiker-Verschwörung haben vermuten lassen, wäre demnach Finte, Ablenkung, Geschichte. Aktuell sind nach wie vor die kruden Machenschaften des Syndikats, einer kleinen Gruppe von Menschen, die dank des UFO-Absturzes in Roswell 1947 über Alien-Technologie verfügt, die lückenlose Überwachung und totale Kontrolle möglich macht. Neu ist, dass die hiernach durchgeführten Menschenversuche offenbar als Alien-Entführungen getarnt worden sind und den mit Alien-DNA versetzten und dadurch einwandfrei kontrollierbaren Erdbewohner zum Ziel hatten. So und nicht anders sollte die Weltherrschaft für die kleine verschworene Gemeinschaft greifbar werden. Außerirdische Zellen trägt im Staffelauftakt übrigens nicht nur Sveta in sich, eine junge Frau, die „von Aliens“ entführt wurde und als vermeintlich einziger Schlüssel zur Wahrheit kurz vor Episodenende von einem UFO pulverisiert wird. Auch Scully, Opfer grausamer Experimente in Staffel 2, besitzt Alien-DNA. Cool? Heiß!
Spender vs. Klimawandel
Erst die sechste Folge schließlich führt den Kampf (My Struggle II) weiter und schlägt, wie erwartet, einen letzten Haken im Plot. Ted O’Malley kehrt mit neuen, paranoiden Ideen zurück: die Menschheit werde in naher Zukunft einem Supervirus erliegen, dessen effiziente Verbreitung durch einen Impfkomplott der amerikanischen Regierung – Injizieren von Alien-DNA über Pockenimpfung – vorbereitet worden sei. Tatsächlich wird das Immunsystem der ansässigen Bevölkerung innerhalb kürzester Zeit lahmgelegt. Dabei ist bald klar, dass nichts klar ist. Ein wirrer Wortwechsel zwischen Mulder und seinem biologischen Vater C.G.B. Spender (Der Raucher), ein Gespräch zwischen Scully und Agent Monica Reyes – frühere Partnerin, jetzige Spender-Gehilfin – und einige DNA-Sequenzierungen später liegt auf der Hand, was die eigentliche Verschwörung ist. Vergessen der Alien-Mensch-Hybrid, der vom Syndikat geplant wurde, um entweder eine Sklavenrasse für die Invasoren oder fügsame Insassen für die eigene globale Strafkolonie zu schaffen. Mehr Sprengstoff muss her: Globale Erwärmung, Aussterben von Vogelarten – die Aliens haben es lange vor uns gewusst. Der Raucher hat es erkannt. Die menschliche Selbstzerstörung ist untragbar. Und zu langsam. Selbst ist der Mann. Spender, plötzlich abgedrehter Moralist, will der destruktiven Lebensweise der Erdlinge Einhalt gebieten, indem er sie mithilfe eines Supervirus killt und gleichzeitig einen kleinen Kreis intelligenter Auserwählter, die Elite, verschont – durch, Achtung, Alien-DNA.
Dass Scully unermüdlich und teils erfolgreich versucht, einen Impfstoff aus ihrer DNA zu gewinnen, ist nachvollziehbar. Das über ihr und dem halbtoten Mulder schwebende UFO unmittelbar vor Episodenende bleibt ein Rätsel. Hoffen wir, dass es nicht die gleiche Vernichtung bedeutet wie für Sveta und der im Intro eingeblendete Hinweis „This is the end“ anders zu verstehen ist.
Schuppenhaut und Nasenpflaster: am Rande der Gesellschaft
Neben dem unverdaulichen Tobak monsters of the week, wie wir sie kennen und beknien. Gerade noch in einem obskuren Labor, in dem Menschen mit genetischen Behinderungen über Jahrzehnte hinweg als Versuchsobjekte missbraucht wurden, um den nächsten Evolutionsschritt zu erzwingen (Gründer-Mutation/Founder’s mutation), zwei Folgen später schon im Angesicht des Nasenpflastermonsters (Heimat/Home Again). Als Rächer der Armen und Obdachlosen versteckt es sich meist im Müllauto seines Schöpfers Trash-Man, um zu angemessener Zeit die Wohlhabenderen von der Bildfläche zu fegen. Mag die Parallelhandlung um Scullys fortgegebenen Sohn William auch etwas erzwungen wirken, so ist immerhin das Pflaster gelungen platziert. Als pars pro toto verwehrt es dem aus Müll gefertigten Monster die eigene Bewusstwerdung, die Erkenntnis, als ursprünglich viele Teile mit gesellschaftlichem Nutzen längst in Form eines übelriechenden und asozialen Ganzen an den Rand gedrängt worden zu sein. Unter anarchistischer Robin Hood-Gerechtigkeit wird der Nasenpflastermann zum Instrument roher Gewalt und damit einzig verbliebenes Bindeglied der beiden Klassen. Ersetzt Trash-Man zuletzt auch den Monsterkopf samt Pflaster durch einen überdimensionalen Smiley, so bleibt doch unklar, auf welche Frage so ein Gesicht die Antwort ist.
Dazwischen die Staffel-Praline mit Folge 2: Mulder und Scully gegen das Wer-Monster (Mulder and Scully Meet the Were-Monster). Die humoristisch aufgearbeitete Geschichte um die Werechse erinnert an die vielen ausgesprochen witzigen und selbstironischen Folgen, die ebenso ein fester Bestandteil des Akte-X-Kosmos sind wie die Verschwörungs- und Mystery-Episoden. Guy Mann, die Riesenechse in Unterhosen, sieht sich nach dem Biss eines Menschen mit der unangenehmen Tatsache konfrontiert, selbst ein Mensch geworden zu sein. Dass er von Mulder und Scully des Mordes verdächtigt wird, stellt für ihn dabei eine weitaus geringere Bedrohung dar als die menschlichen Bedürfnisse, die er zu entwickeln beginnt. Am ersten Tag seines Menschseins etwa folgt er dem scheinbar naturgegebenen Zwang, einen Job zu suchen – der Anfang vom Untergang. Guys Leben wird sinnlos: tagsüber malochen, abends Burger und Porno und irgendwann der obligatorische Gang zum Psychiater. Die Gewalttätigkeit der menschlichen Art gibt ihm den Rest; er will die tägliche Verwandlung nicht länger vollziehen und bevorzugt den 10.000jährigen Winterschlaf als Fluchtweg aus dem ewigen Kreis des Strebens.
Auf Pilzen durch Babylon
Zuletzt auf gen Babylon. Ein weiteres Goldnugget der Miniserie. Der Aufschrei in einigen deutschen Reviews, hier ein brisantes Thema unelegant angepackt, klischeehaft abgehandelt und dabei einen islamophoben Plot produziert zu haben, ist schwer mit zu tragen, war allerdings zu erwarten. Warum?
Zwei islamistische Selbstmordattentäter zünden in einer Galerie mit moderner und provokativer Kunst einen Sprengsatz. Einer von ihnen überlebt, bleibt aber hirntot. Gemeinsam mit zwei weiteren Agenten versuchen Mulder und Scully auf jeweils unterschiedliche Weise an Informationen über den Drahtzieher des Anschlags zu kommen: Scully sucht mithilfe eines Gehirnscans Antworten in der Neurowissenschaft, Mulder vertraut auf seine übernatürlichen Erfahrungen und will in einem psychedelischen Trip die gemeinsame Ebene der Kommunikation mit dem Komatösen finden. Methodenkönig bleibt Mulder; sein selbstkarikierendes Placebo-Cowboy-Erlebnis bringt die ersehnte Antwort. Irgendwo zwischen Disco-Fox und Seefahrt fällt der Name des Hotels, das Nest der terroristischen Zelle ist: „Babylon“. War’s das? Na. So weit, so kurz.
„Babylon“ verweist hier nicht nur auf eine der wichtigsten Städte des Altertums im heutigen Irak und beherbergt einen Tempelturm, der biblischer Überlieferung nach auf den Turmbau zu Babel zurückgeht. Es bezeichnet laut Neuem Testament auch eine Art Anti-Jerusalem, einen irdischen, widerchristlichen Machtpol zur Stadt Gottes. Kontra genug, um die Vernichtung Babylons, Mutter der Huren und Greuel der Erde, in der Offenbarung des Johannes zu orakeln. Weit gefasst wird Mulders Hotel „Babylon“ damit Sinnbild für den Glaubenskrieg. Noch wichtiger aber unser Turmbau; dazu kurzer Ritt durch die Theologie: vor langer, langer Zeit hegten viele Menschen den Wunsch, auf Augenhöhe mit ihrem alten Herrn zu gelangen, und errichteten als Monument gemeinschaftlichen Handelns den Turm zu Babel – zumindest ein bisschen. Denn Gott gefiel sich in seiner Diktatur alleine am besten und strafte die überheblichen Erdlinge mit der sogenannten Sprachverwirrung. Anstelle einer gemeinsamen Sprache verwendeten die Menschen ab sofort unterschiedliche, konnten sich nicht länger über den Turmbau verständigen und verstreuten sich missgelaunt und desillusioniert in alle vier Himmelsrichtungen. Von Kommunikations-schwierigkeiten nicht nur zwischen verschiedenen Völkern handelt auch diese fünfte X-Akte. Scullys Gedanke, dass es durch das Sprechen einer gemeinsamen Sprache möglich sein sollte, Kriege und vor allem Glaubenskriege zu verhindern, wird von Drehbuchautor Chris Carter selbst mit ironischen Engelstrompeten beantwortet. Die Errichtung des Weltfriedens als Turmbau zu Babel. Unmachbar. Zu unterschiedlich die Besitzverhältnisse, zu unterschiedlich die Glaubensansätze, die Sprachen. Doch es bleibt ein schöner Gedanke und damit eine der gelungensten Akte X-Folgen.
Gelungenes Sequel?
Insgesamt kann die Miniserie auf halber Strecke an die Erfolge der frühesten Staffeln anknüpfen. Dabei schwerwiegender und bedauernswerter Kritikpunkt: die Rahmenhandlung um die verschwörerischen Handlungen des Syndikats. Zu viel in zu wenig Zeit führt zu unverständlichen Plotsprüngen und zu selbst unter Mulder-Maßstäben inakzeptablen Verständnislücken, die noch nachsichtige Fans auf eine harte Probe stellen. Spender als Umweltaktivist? Klimawandel und Artensterben als treibende Kräfte seines diabolischen Plans? Außerirdische, die es schon immer gewusst haben? Ok. Aber nicht in zwei Sätzen in zwei Folgen. Das Akte X-Universum ist ein so fantastisches und großes, ein so bescheuertes, verwirrtes und intelligentes geworden, dass sechs Episoden niemals ausreichen, um es zufrieden und mit Trekkie-Gruß am Fenster der Raumkapsel zu verabschieden. Und wo sind die Aliens? Die wichtigste und eklatanteste Frage, die auch nach 10 Staffeln und 208 geöffneten X-Akten nicht einmal annähernd beantwortet werden kann. Wo sind die Aliens?
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Trailer (YouTube)
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